Linke Zecke – liberale_r Mitesser_in? (Ausgabe #14)

Im Supermarktregal stehen vollendete Tatsachen. Pflanzlich oder tierisch? Der Preis unterscheidet. Fragen wir die Politik! Wohin fließen Fördergelder und Lobbyismus? Wo ist Handlungsspielraum?

– von Laura Ferchner

Die Uhr im Blick. Den Blick fürs Wesentliche nicht verlieren. Mein Magen, ein gähnendes Loch. Ein Sprung in den Supermarkt und ich schaffe es trotzdem pünktlich zur politischen Praxis. Zeckenrap auf den Ohren. Ich hetze durch viel zu lange Gänge. Ein kapitalistisches Labyrinth, um sich darin zum Glauben zu verirren, Konsumgüter könnten die Leere der Bedürfnisse füllen. Endlich an meinem Kühlschrankziel. Ein Preisschild weist darauf hin, dass zwischen Thunvischbrot und Thunfischbrot ein Thunfischbrot-Wertunterschied liegt. Fast will ich meinen Ärger einfach übergehen und zur Kasse eilen. Warum die ungleichen Preise?

EU-GELDER ZUR NAHRUNGSPRODUKTION

Nicht aufwändigere Produktions- oder Forschungsprozesse und höherer Materialbedarf machen pflanzenbasierte Lebensmittel teurer als tierische. Die Gesellschaft gewichtet beide Produktklassen unterschiedlich und ihre Werturteile machen Politik. Die EU-Förderung von tierischen Produkten ist 1.200-mal höher. Finanzhilfen decken 50 % im Vergleich zu 1,5 % der Einkünfte ab. Im Interessensstreit um Forschungsgelder gewinnen Projekte, von denen nur 3 % Fragen zu pflanzlichen Lebensmitteln untersuchen. Kein Wunder, dass ein Preisunterschied an Konsument_innen weitergereicht wird! Aber wenn gesellschaftspolitische Strukturen pflanzenbasierte Ernährung erschweren und Politik das Interesse der Mehrheit vertritt, müsste tierische Nahrung nicht besser für die meisten sein?

Die EU-Förderung von tierischen Produkten ist 1.200-mal höher. Finanzhilfen decken 50 % im Vergleich zu 1,5 % der Einkünfte ab.

Obwohl Weiterleben auf der Erde im größtmöglichen Interesse aller ist, sind global 15 % der Treibhausgase auf Massentierhaltung zurückzuführen. Die Produktion von pflanzlichen Lebensmitteln ist ressourcenschonender. Doch die Umwelt wird in den Ernährungsrichtlinien der EU-Staaten nicht berücksichtigt. Individuelles Handeln kann bei der eigenen Ernährung am wirkmächtigsten zur Reduktion von Treibhausgasen beitragen und wird dennoch massiv erschwert. Manche können sich die finanzielle Hürde schlicht nicht leisten, politisch ungerecht ist sie für alle. Offen bleibt: In wessen Interesse sind die Supermarktpreise?

Von kapitalistischem Interesse ist jeder Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Die lange Tradition der Herstellung tierischer Erzeugnisse bedeutete einen Startvorteil für Besitzer_innen von Betrieben auf diesem Gebiet. Sie hatten mehr Zeit, um Mehr-Geld aus                                                               Arbeit zu schöpfen. Jetzt haben sie mehr Mehr-Geld und können mehr Geld für mehr Geld ausgeben: Lobbyismus. Für ihre politischen Interessen fließen dreimal höhere Beträge. Sogar in Sprache wird investiert! Seit 2017 sind Begriffe wie „Käse“ oder „Milch“ tierischen Produkten vorbehalten. Oder so ähnlich. Körper- oder Scheuermilch hatten Glück, sie sind ungenießbar. Doch auch nahrungsspezifische Milchunwürdigkeit kennt Ausnahmen: Hafer, Dinkel oder Reis sind betroffen, Kokos nicht.

SCHWER VERHANDELTE VERBESSERUNGEN

Wie kann der Kreislauf durchbrochen werden? Besitzende und Proletarier_innen sind gleichermaßen vom Zirkel der Warenproduktion abhängig. Diese Überschneidung lässt den Benachteiligten Handlungsspielraum. Kapitalist_innen versuchen, ihn zu blockieren, weil sie ihre profitable Position sichern wollen. Wissen um Handlungsfolgen wird von Proletarier_innen fern-, ihre Geldressourcen knapp gehalten. Doch auch erdrückende Übermacht kann individuelle Handlungsfreiheit nie auslöschen. Ausschlaggebend ist, dass Wissen und finanzielle Ressourcen zusammenkommen. Wissen ohne Geld führt zum Gefühl der Handlungsohnmacht. „Warum zu meinem finanziellen Nachteil handeln, wenn alle anderen…?“ Geld ohne Wissen führt nicht zur Beschaffung teurerer Lebensmittel. Trifft aber im politischen Handlungsbewusstsein beides zusammen, werden Handlungspotentiale erkannt, genutzt und ausgeweitet, die Übermacht Einzelner zurückgedrängt.

Doch auch erdrückende Übermacht kann die individuelle Handlungsfreiheit nie auslöschen.

Einflussnahme zeigt bereits Wirkung. Seit 2017 nimmt die Forschung zu pflanzenbasierten Lebensmitteln zu. Seit 2014 entstanden pro 100.000 Einwohner_innen elf neue Betriebe für entsprechende Lebensmittelherstellung. Erstmals erwägen nationale Ernährungsrichtlinien skandinavischer Länder Umweltaspekte. Solidarische Essensorganisation nimmt zu: Sozialmärkte, solidarische Landwirtschaften, KüfAs. Das pflanzliche Produktangebot im Supermarkt steigt und immer gängiger schöpft Dumpstern nicht-kapitalistische Handlungspotentiale dieses Ortes aus.

Seit 2017 nimmt die Forschung zu pflanzenbasierten Lebensmitteln zu.

Auch wenn ich das nicht immer kann, und es wichtig ist, meine Grenzen dann zu achten, nutze ich heute meinen Handlungsspielraum. Ich will bestimmen, welche Produktionsform mein Kauf unterstützt. Diesmal bezahlt mein finanzieller Nachteil statt der Umwelt teuer für den Preisunterschied. Mit meinem Kontostand im Hinterkopf denke ich: „Jeden Tag kann ich mir das nicht leisten!“ Dass diese Praxis uns meiner Gesellschaftsutopie näherbringt, kann mir aber niemensch nehmen. Politisch handle ich nicht erst auf der Demonstration.

Zum Weiterlesen:

Der Guardian-Artikel ‘Gigantic’ power of meat industry blocking green alternatives (2023) präsentiert Ergebnisse einer Vergleichsstudie zur Politik der Nahrungsproduktion. 2023, ein gutes Jahr? Für die Fleischindustrie!

Im Podcast Big Meat’s Big Win in Europe (2023) von EU Scream wird die EU-Politik kritisiert.