»Niemand fragt nach dem Warum« (Ausgabe #10)

Wohnungs- und obdachlosen Menschen wird in unserer Gesellschaft wenig Raum gegeben. Als Betroffene geben die Backstreet Guides mit ihren Touren und Geschichten wichtige Einblicke.

– von Luan Herbst

© Ingo Kapelari

Sandra ist Guide bei den Backstreet Guides und macht dort Grätzl-Touren, früher war sie bei SuperTramps tätig. Obdach- und Wohnungslosigkeit ist ein wichtiges Thema für sie, besonders in Bezug auf Frauen*.

Hedy war früher ebenfalls Super-Tramps-Guide. Jetzt organisiert sie mit Sandra den neu gegründeten Verein Backstreet Guides. Kennen- gelernt haben sich die beiden bei der Armutskonferenz in Linz.

Luan: Hallo Sandra, hallo Hedy. Wir treffen uns für das Interview in der Hauptbücherei Wien am Urban-Loritz-Platz – warum?

Sandra: Die Bücherei ist für viele Obdachlose ein Zentrum der Wärme. Mit Mobilpass zahlt man nämlich nur neun Euro für eine Jahreskarte der Bücherei. Hier kann man sich weiterbilden und ist dabei gleichzeitig im Warmen. Das ist vor allem in kalten Jahreszeiten sehr wichtig. Die Leute kommen, setzen sich hin oder schlafen eine Runde, weil sie wissen, dass sie hier ihre Ruhe haben.

Luan: Ihr habt bisher Touren bei SuperTramps geführt und jetzt einen eigenen Verein gegründet, die Backstreet Guides. Sandra, wie gehst du an die Arbeit heran?

Sandra: Mir ist vor allem wichtig, dass die Touren nicht so ernst sind. Das Thema ist sowieso schon hart genug. Und das dann auch noch härter zu machen, finde ich nicht richtig. Ich will nicht, dass jemand von meiner Tour weggeht und traurig ist oder sogar weint. Ich will, dass jede_r Teilnehmer_in nachdenklich weggeht und sich denkt, dass es Spaß gemacht hat, trotz allem. Und dieses Ziel erreiche ich eigentlich immer.
Außerdem finde ich den Voyeurismus gegenüber obdachlosen Menschen furchtbar. Auf den Touren gebe ich immer acht, dem entgegenzuwirken. Selten gehe ich mit Besucher_innen in Einrichtungen hinein, sondern bleibe davor stehen. Ich will nicht, dass die Leute herumstehen und starren in der Hoffnung, jemanden ‚am Abgrund‘ zu sehen. Wir sind doch in keinem Zoo. Obdachlose sind Menschen, die ein schweres Schicksal hinter sich haben.
Das ist auch, was ich immer sage: Wenn man obdachlose Leute sieht, soll man sich fragen: Warum ist dieser Mensch jetzt da, wo er ist? Denn niemand fragt nach dem Warum, nach dem Grund für die Obdachlosigkeit. Man schaut nur oberflächlich hin oder macht einen verschämten Blick zur Seite, wenn man Obdachlosen in der Öffentlichkeit begegnet. Das ist demütigend uns gegenüber, das tut weh.

Luan: Wie erlebt ihr den Stellenwert von Obdachlosen in der Gesellschaft? Mit welchen Vorurteilen habt ihreuch herumschlagen müssen?

Hedy: Egal welche Ausbildung du hast oder aus welchen familiären Verhältnissen du kommst – sobald du obdachlos bist, wirst du auf diesen Faktor reduziert. Du wirst stigmatisiert, auch intellektuell, aufgrund des Klischee-Denkens und der Stereotypen, die Menschen von Obdachlosen im Kopf haben. Im Prinzip wirst du gesellschaftlich runtergetreten: Du wirst behandelt wie ein halb gebildetes Kind. Und diesen Dummheitsstatus, diese angebliche Verblödung wirst du nicht mehr los. Das finde ich furchtbar – ich weiß, was ich kann und ich weiß, was ich will!

Sandra: Durch die Obdachlosigkeit wirst du automatisch an den Rand der Gesellschaft geschoben. Nein, du bist gar nicht mehr am Rand, du wirst darüber hinaus gedrängt. Und das, obwohl du eh schon ein schweres Schicksal hinter dir hast – und dann von allen so respektlos behandelt zu werden ist nicht schön. Ständig bist du konfrontiert mit den Vorurteilen vom ‚dummen Penner‘ und ‚blöden Sandler‘.

Luan: Inwiefern wird obdachlosen Menschen der Platz im öffentlichen Raum verwehrt?

Sandra: Die Stadt Wien ist auf jeden Fall bemüht, Obdachlose aus der Öffentlichkeit, etwa aus Parks, zu vertreiben. Zum Beispiel werden Bänke aufgestellt, die Zwischenstücke haben und keinen Liegeplatz bieten, oder Sitzbänke, die sehr kurz sind. Es gibt nur noch ein paar alte Bänke in der Stadt,
die mit den grünen Lehnen aus Gusseisen. Das waren die besten Schlafplätze: Die hat man zusammengeschoben und gut geschlafen, ohne gestört zu werden. Auch in abgestellten Zugabteilen konnte man damals gut Unterkunft finden, das geht heute kaum noch.

Hedy: Obdachlose werden aus der Öffentlichkeit vertrieben, ja, aber es gibt generell zu wenig Platz. Es geht nicht nur umunsere Gemeinschaft, für die die Stadt nicht gut ausgebaut ist, sondern auch um ältere oder behinderte Menschen. Ältere Herren, Studierende, Mütter samt Kindern und Kinderwagen gehen auch in den Park oder benützen die Öffis. Für uns alle braucht es genug Platz und Zugänglichkeit.

Luan: Eine Frage zum Schluss: Wie kann man euch und die Backstreet Guides am besten unterstützen?

Hedy: Uns kann man wirklich auf jeder Ebene unterstützen. Das meint natürlich finanzielle Hilfe durch Sponsoring. Aber am besten ist es, denke ich, wenn man uns persönlich kennenlernt und zu den Touren kommt. Die Menschen sollen sich selbst ein Bild machen – kommt einfach vorbei und sagt Hallo! Abgesehen davon sind Sachspenden eine enorme Hilfe für uns: Bei den Barmherzigen Schwestern nehmen wir gerne Kleingeräte, Kleidung und vor allem Schuhe entgegen. Natürlich freuen wir uns als Verein auch, wenn uns jemand mit Wissen unterstützt, das wir selbst nicht haben.

Zum Weiterlesen:

Die Backstreet Guides – sind ein gemeinnütziger Verein, der Grätzl-Touren veranstaltet und geläufige Sichtweisen zu Obdachlosigkeit verändern und authentische Perspektiven aufzeigen will.

Die VinziRast – ist ein ‚Platz für Menschlichkeit‘ und betreibt eine Notschlafstelle, verschiedene Wohnprojekte und Werkstätten für Obdachlose, Asylbewerber_innen und ehemalige Suchtkranke.

Das neunerhaus – ist eine soziale Organisation in Wien, die obdachlosen und armutsgefährdeten Menschen medizinische Versorgung, Wohnraum und Beratung ermöglicht.