Warum immer “die Juden” herhalten müssen, niemand mehr Antisemit_in sein will und es Israel geben muss.
– by UNTER PALMEN
Antisemitismus hat Tradition. Besonders hier in Österreich. Es gibt ihn aber fast überall und das nicht zufällig. Denn Antisemitismus ist eng verknüpft mit der Einteilung der Welt in Nationen. Die kann man nämlich nicht ohne Feindbilder und verdrehte Weltansichten haben. Mehr dazu könnt ihr in unserem Artikel „Immer wieder Österreich?“ nachlesen.
Antisemitismus, was ist das genau?
Antisemitismus ist eine Reaktion auf die kapitalistische Gesellschaft, in der wir leben. Dabei werden gewisse, als schlecht empfundene Auswirkungen des Kapitalismus abgespalten und Juden_ Jüdinnen angelastet. Das wird dann mit einem “jüdischen Wesen” erklärt, wonach Juden_Jüdinnen geldgierig, machtbesessen, heimatlos, usw. seien. Dem zugrunde liegt, vereinfacht gesagt, eine Unterscheidung in “gute” bzw. “produktive” Arbeit, die der Nation dient, und “schlechte” bzw. “unproduktive Arbeit”, die von außen kommend, gegen die Nation handeln soll. Diese “unproduktive Arbeit” wird als losgelöst von der Wirtschaft verstanden und mit dem Finanzwesen gleichgesetzt. Dieses soll dann jüdisch kontrolliert sein und angeblich die Welt beherrschen. So werden komplizierte Zusammenhänge damit erklärt, dass hinter allem „die Juden“ stecken würden. Antisemitismus ist also immer eine Welterklärung. Dass der Finanzsektor, Industrie, Handel, kleine und große Unternehmen, Bio- oder Supermärkte, und so weiter , alle Teile des Kapitalismus sind und zusammenhängen, wird nicht erkannt. Der Kapitalismus ist kein Werk von einzelnen, bösen, geldgierigen Menschen, sondern ein System, das gänzlich ohne persönliche Herrschaft auskommt.
Die Erwirtschaftung von Gewinn ist der Sinn und Zweck dieser Art und Weise, wie produziert wird. Der Kapitalismus funktioniert dabei auch nur, wenn alle oder zumindest die große Mehrheit mitmachen. Aber auch Leute, die sich selbst als Links verstehen, sind vor ähnlichen Weltansichten nicht sicher. Wie ganz viele andere auch unterscheiden sie oft in eine “gute” und “schlechte” Arbeit und fantasieren zum Beispiel von “gierigen Bankern”, die an allem Schuld wären. Sie kommen ganz ohne den Verweis auf Juden_Jüdinnen aus, aber sie argumentieren fast gleich wie Antisemit_innen. Gesellschaftliche Missstände werden auch hier als Werk einiger böser Menschen gesehen. Wir nennen so etwas “struktureller Antisemitismus”. Wer strukturell antisemitisch argumentiert, hat also nicht unbedingt etwas gegen Juden_ Jüdinnen, vertritt aber gefährliche und falsche Erklärungen. Daher gibt es auch immer die Möglichkeit, dass der strukturelle in einen „echten“ Antisemitismus umschlägt.
Nicht nur wirtschaftliche Vorstellungen, auch Vorstellungen von Sexualität und Kulturproduktion sind Teil des antisemitischen Weltbildes. Angeblicher “Werteverfall” und vermeintliche “Dekadenz” werden mit einem herbeifantasierten „jüdischem Einfluss” erklärt. Wenn Antisemit_innen von „Werteverfall“ reden, sind schlicht Dinge wie die Sichtbarkeit von Homosexualität, moderne Kunst, individuelle Selbstentfaltung und so weiter gemeint.
So werden im Antisemitismus Juden_Jüdinnen zum allgemeinen, übermächtigen Gegenteil der Nation erhoben. Sie sind nicht Teil der Nation, sondern eben jüdisch und zerstören angeblich die Gemeinschaft von außen und zersetzen sie von innen. Das bietet, wie schon oben erwähnt, eine umfassende Welterklärung. Und genau hier zeigt sich, dass Antisemitismus nicht, wie oft behauptet, einfach ein Vorurteil oder Rassismus gegen Juden_Jüdinnen ist, sondern anders funktioniert: Juden_Jüdinnen werden als allmächtig, weltbeherrschend, hinter-allem-steckend oder zersetzend bezeichnet und so als allgemeiner Feind betrachtet, der im Endeffekt vernichtet werden muss. Im Gegensatz dazu macht Rassismus Menschen aufgrund von ausgedachten biologischen Unterschieden und/oder essentialistischen Kulturvorstellungen zu den “Anderen” und wertet sie ab. Gerade weil Antisemit_innen Juden_Jüdinnen als allgemeinen und übermächtigen Feind, der überall die Finger im Spiel hat, sehen, kann ein erfolgreicher Kampf gegen diesen Feind nur seine Vernichtung bedeuten. Das hat sich in der Geschichte oft genug gezeigt und zeigt sich immer noch.
Antisemitismus überall, Antisemiten nirgends?
Den bisherigen Höhepunkt des Antisemitismus stellt die Shoah, der Holocaust, dar. Die Shoah bezeichnet die industrialisierte Vernichtung von 6 Millionen Juden_Jüdinnen durch die Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus. In Österreich und Deutschland, den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus, ist es seit der Shoah tabuisiert offen antisemitisch zu sein, was natürlich nicht bedeutet, dass offener Antisemitismus in Österreich nicht auftaucht. Im Gegenteil: Das passiert immer wieder. Allerdings bedienen sich Antisemit_innen meist gewissen Codes, wie zum Beispiel die “US-Ostküste”, “Multikulturalisten”, dem Gerede von “internationalen Finanzspekulanten”, “gierigen Finanzhaien” oder “geheimen Mächten” und “Fadenziehern”, die hinter gesellschaftlichen Prozessen stehen sollen und die Gemeinschaft zerstören wollen, um ihren Antisemitismus zu verstecken. Leute können so ganz indirekt angesprochen werden, sie verstehen wer gemeint ist, ohne dass das Wort „Juden“ erwähnt wird. Auch funktioniert das ganz einfach in gewissen Andeutungen, wenn zum Beispiel auf die “US-Ostküste” verwiesen und das dann mit einem “man weiß ja, was dort passiert” beendet wird.
Antisemitismus zeigt sich auch, und gerade nach der Staatsgründung Israels, in der Beurteilung Israels, dem Staat der Shoah-Überlebenden. Die Politik Israels zu kritisieren, wird dabei oft als Vorwand verwendet, um offen antisemitisch sein zu können. Allerdings gibt es auch verstecktere Formen, in denen sich der Hass gegen Israel zeigt. Eine übliche Art und Weise um antisemitische Ressentiments gegen Israel zu benennen, sind die sogenannten drei D’s:
Dämonisierung, doppelte Standards und Delegitimierung. Kurz erklärt bedeuten sie das: Dämonisierung meint, das Israel als etwas ganz Böses dargestellt wird, etwa wenn Israel als die größte Gefahr für den Weltfrieden, als Apartheidsstaat oder als Kindermörder bezeichnet wird.
Doppelte Standards meint, dass oft Dinge an Israel kritisiert werden, die bei anderen Staaten nicht einmal beachtet werden oder zumindest weniger ins Gewicht fallen. Das zeigt sich sehr stark in österreichischen und deutschen Medienberichten, in denen Israel vorkommt: Israel wird dort oft als einzige handelnde Partei dargestellt. Als Beispiel: Von israelischen Militärschlägen wird oft berichtet, von permanenten Raketenangriffen der Hamas aber nicht.
Delegitimierung meint, wenn Menschen Israel die Berechtigung zu existieren absprechen. Gerade wenn Antisemit_innen davon reden, dass Israel kein Existenzrecht hätte, zeigt sich auch die besondere Stellung Israels. Die Shoah hat gezeigt, dass der Antisemitismus in letzter Konsequenz potentiell immer auf Vernichtung hinausläuft, weshalb Israel 1948 gegründet wurde. Israel ist also ein Schutzraum für Juden_Jüdinnen in einer kapitalistischen Welt, die, wenn sie so bleibt wie sie ist, immer Antisemitismus hervorbringen wird. Für uns kann eine bessere Welt nur jenseits von Staat, Nation und Kapital existieren, allerdings denken wir, dass Israel als Staat im Hier und Jetzt Schutz für Juden_Jüdinnen bietet und deshalb notwendig ist.
Zum Schluss
Antisemitismus ist also nicht einfach nur irgendein Vorurteil gegenüber Juden_Jüdinnen, sondern eine wahnhafte, falsche Vorstellung davon, wie die Welt eingerichtet ist. Er entsteht aus der Erfahrung des kapitalistischen Alltags mit all seinen Seiten und ist deshalb untrennbar mit Nationalismus und Gemeinschaftsbildung verbunden. Konkret „lernen“ Menschen Antisemitismus selbstverständlich meist von ihrem sozialen Umfeld. Dass sie grundsätzlich so einen Mist vertreten, hat aber, wie gesagt, gesellschaftliche Gründe. Nation, und vor allem Österreich (und Deutschland), bedeutet damit auch immer Antisemitismus und die Shoah mitzudenken. So ist die konsequenteste Art Antisemitismus zu bekämpfen, wohl den Kapitalismus radikal zu kritisieren und abzuschaffen, um endlich das gute Leben für alle zu verwirklichen. Und das erledigt sich nicht von allein.
Mehr:
“Geschichte des Antisemitismus”
Ein Buch von Werner Bergmann.
Kritik des Antisemitismus
Ein Vortrag der Associazione Delle Talpe.