– by UNTER PALMEN
Es läutet. Endlich! Die Schule ist vorbei. Melanie packt ihr Zeug zusammen und schaut, dass sie raus kommt. Wie üblich stehen sie und einige Klassenkolleg_innen dann noch in Grüppchen vor dem Schulgebäude herum. „Puh“, meint Markus, „das eben war schon eher zach, oder was meint ihr?“ Die Klasse hatte gerade über Bevölkerungswicklung gelernt. Da ging es viel um sinkende Geburtenraten, Zuwanderung und so Sachen. Erst scheint keine_r so richtig Lust zu haben, jetzt noch über den Unterricht zu sprechen, aber dann wirft Clara ein: „Naja, ich finde das Thema eigentlich schon wichtig. Oder ist es euch egal, wer hier lebt? Wenn die Österreicher nicht bald mehr Kinder bekommen, was glaubt ihr, was dann passiert? Ich jedenfalls möchte nicht fremd im eigenen Land sein.“ Damit hat sie offenbar einen Nerv getroffen. Plötzlich ist doch Interesse da und es wird wild durcheinander geredet. Über „die Österreicher“, ihre Kultur und die Frage, wer wo leben darf, oder eben auch nicht. Melanie hört nur zu. Irgendwie kommt ihr das zwar alles komisch vor, aber so recht weiß sie dann auch nicht, was sie sagen sollte.
Einige Minuten später ist sie auf dem Weg zu ihrem Freund Karim und denkt über alles nochmal nach. Wer ist denn überhaupt gemeint, wenn Clara von „Österreichern“ redet und was soll „fremd im eigenen Land“ heißen? Und wäre es nicht eigentlich besser, wenn alle dort Leben könnten, wo sie wollen?
Bei Karim angekommen, denkt sie erst mal wieder an erfreulichere Sachen. Die zwei plaudern über dies und das und lernen dann für den nächsten Test. Nach einer Weile haben beide genug und Karim schlägt vor, zur Abwechslung mal eine Runde zu zocken. Plötzlich kommt Karims ältere Schwester Kübra ins Zimmer geplatzt. „Ich sag’s euch“, schnaubt sie verärgert, „mich hat schon wieder so ein Trottel im Bus angestänkert. Dieser Depp hat irgendetwas über zu viele Ausländer und ich soll zurück gehen, wo ich hergekommen bin, gelabert.“ „Und wie hast du reagiert?“ fragt Karim. Ein angefressenes „Naja, du kannst dir vorstellen, ich war nicht gerade nett zu ihm.“ lässt Platz für Interpretationen. Kübras Geschichte erinnert Melanie wieder an die Diskussion vor der Schule. Schnell erzählt sie den beiden anderen davon. „Pfff “, macht Kübra „diese Clara kann sich gleich mit dem Dude aus dem Bus auf ein Packl hauen. Die verstehen sich sicher großartig.“ „Moment“, unterbricht Melanie da, „ich check nicht ganz, was Clara mit diesem miesen Rassisten zu tun hat. Also ich fand auch komisch, was sie gesagt hat, aber das war doch nicht rassistisch, oder?“ „Du checkst nicht, was die miteinander zu tun haben? Ich sag’s dir“, meint Kübra leicht genervt, „die stehen beide auf Österreich, oder mal ganz allgemein gesagt, auf die Nation. Die Nation ist für die aber kein Verein, wo alle die Lust haben, mitmachen können. Im Gegenteil. Österreich ist für die eine exklusive Gemeinschaft. Entweder du gehörst dazu oder eben nicht. Daran lässt sich nicht rütteln. Die Eintrittskarte in diese Gemeinschaft ist es, die richtige Kultur oder biologische Abstammung zu haben. Beides ein ganz schöner Witz. Mit Kultur ist nämlich eine Sammlung von unveränderbaren Vorlieben, Eigenschaften und Anschauungen, die ein Gruppe von Menschen angeblich hat, gemeint. Nachdem so etwas in der Realität aber nicht existiert, muss es permanent herbeigeredet werden. Über die Fantasien von den biologischen Gemeinsamkeiten müssen wir eigentlich gar nicht lange reden. Dass so etwas wissenschaftlich gesehen kompletter Unsinn ist, weiß man ja schon seit Jahrzehnten“. „Ja, aber so denken doch eigentlich recht viele Leute, oder?“, fragt Melanie nach, „Da muss dann doch etwas dran sein.“ Kübra verdreht die Augen. Dann sagt sie „Also bitte, dass viele Leute irgendetwas glauben heißt überhaupt nichts. In der Geschichte haben viele Menschen schon alles mögliche komische Zeug geglaubt.“ „Heißt das dann, dass es Österreich als kulturelle Gemeinschaft gar nicht gibt?“, fragt Karim nach. Kübra muss schmunzeln, dann sagt sie: „Ja und Nein. Ja diese Gemeinschaft gibt es nicht wirklich. Sie existiert nur in der Vorstellung der Menschen. Aber, und jetzt kommt es, auf der anderen Seite gibt es sie ganz real. Weil sich so viele Leute diese Gemeinschaft als etwas tatsächlich Vorhandenes denken und das ständig und überall, bekommt diese Vorstellung einen konkreten Einfluss auf unser aller Leben. Was mein ich damit? Ob dich die Leute als Österreicherin oder als Türkin wahrnehmen, kann ausschlaggebend sein, ob sie dir freundschaftlich auf die Schulter klopfen, oder dir doch lieber ins Gesicht schlagen. Wenn man so drüber nachdenkt, ganz schön verrückt, oder?“ „Ziemlich“, stimmen Melanie und Karim zu.
Während Kübra so erzählt hat, musste Melanie an ihre Lieblingslehrerin, Frau Winter, denken. Sie kann sich noch gut erinnern, wie die Professorin vor einiger Zeit darüber gesprochen hat, wie wichtig es ist, dass alle, die sich zu den demokratischen Werten der österreichischen Nation bekennen an dieser auch teilhaben dürfen. Vorsichtig fragt sie mal nach, was Kübra davon hält. Die meint: „Also deine Lehrerin hat fix ein harmloseres Verständnis von der Nation. Ich würde diesen ‘netten’ Nationalismus deiner Lehrerin aber ehrlich gesagt nicht getrennt von der richtig widerwärtigen Sorte Nationalismus sehen, die ich euch gerade beschrieben hab.“ „Wieso?“, fragt Karim, „Da gibt es doch einen offensichtlichen Unterschied! Bei ersterem kann mitmachen wer möchte, während letzterer eher nach 1938 klingt.“ „Klar gibt es diesen Unterschied“, räumt Kübra ein, „und den will ich auch gar nicht leugnen. Der Zusammenhang besteht wo anders. Und zwar im gemeinsamen positiven Bezug auf die Nation. Die Nation stellen sich die verschieden Leute zwar jeweils anders vor, aber die Annahme, dass es sie gibt, haben sie beide. Der Witz dabei ist, wenn viele Leute an die Nation ‘glauben’, gibt es dabei immer welche, die sie als ‘essentialistische Gemeinschaft’ verstehen. Essentialistische Gemeinschaft heißt übrigens soviel wie eine Gemeinschaft, die wegen unveränderbarer Eigenschaften, die alle ihre Mitglieder haben, zusammengehört. Dabei ist es egal, ob diese Eigenschaften kulturell oder biologisch sein sollen. Jetzt fragt fix gleich wieder wer von euch, ob das so immer so sein muss. Ich sag mal so: die Wahrscheinlichkeit ist zieeeemlich hoch. Das hat einfach mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben. Die ist nämlich echt unvernünftig eingerichtet. Anstatt möglichst die Bedürfnisse aller zu befriedigen, geht es hier nämlich nur darum, aus Geld mehr Geld zu machen. Dabei stehen alle mit allen in Konkurrenz. Wichtig ist, dass daran nicht einfach irgendwelche Bösewichte schuld sind, sondern die Art und Weise wie unser Wirtschaftssystem funktioniert. In dieser miesen Lage hilft es den Menschen nun zu glauben sie seien Teil einer tollen und fixen Gemeinschaft. Weil sie das sind, meinen sie dann zum Beispiel besondere Rechte zu haben oder besonders viel Wert zu sein.“ „Ah, jetzt versteh ich auch besser was Clara gesagt hat“, meint Melanie, „wenn sie davon redet ‘fremd im eigenen Land’ zu sein, macht sie sich Sorgen, ihre Nation könnte zerfallen. Stimmt’s oder mach ich jetzt einen Denkfehler?“ „Ich finde das klingt logisch“, stimmt Karim zu, „und aus ihrer falschen Sicht macht, was sie gesagt hat, ja auch Sinn. Eigentlich eh klar. Wer sich die Nation als unveränderbare Gemeinschaft denkt, ruft schnell zum großen Kinderkriegen auf. Wenn sich die Österreicher_innen nicht fleißig genug vermehren, geht die Nation schließlich flöten. Vögeln für den Fortbestand quasi.“ „Ihr sagt es“, lacht Kübra, „bei Leuten mit solchen Vorstellungen ist es mit körperlicher Selbstbestimmung dann meist auch nicht weit her. Das Recht, sich im Falle eine Schwangerschaft auch gegen ein Kind zu entscheiden und abzutreiben, steht nicht am Programm. Wer Kinder gebären kann, hat das auch zu tun. Ob diejenigen das auch wollen, tritt in den Hintergrund. Alle Frauen* werden in eine Mutterrolle gesteckt.“ „Oida“, schnaubt Melanie, „ich lass mir nicht von irgendwelchen Pfeifen vorschreiben, ob ich Kinder bekomme. Mein Körper gehört schließlich mir, Punkt!“. Kübra muss kichern, dann sagt sie: „Wem sagst du das. Dumm auch, dass es sich damit noch nicht hat. Die stehen nämlich nicht nur drauf, andere zum Kinder bekommen für die Nation anzuhalten. Sehr häufig tun sie das auch noch in Verbindung mit äußerst widerlichen Vorstellungen von Sexualität und Geschlechterrollen. Alle, die nicht in das klassische Bild von Männer* und Frauen* passen, werden als Gefahr gesehen. Frauen*, die keinen Bock darauf haben sich rumschubsen zu lassen, gehen zum Beispiel gar nicht und wenn die wir-wollen-selber-über-unser-Lebenbestimmen Feminist_innen auftauchen kommt Clara & Co. sicher das Gruseln. Da wird dann gleich vor dem Zerfall der Familie gewarnt. Und wo die Familie verschwindet, steht es um die Nation auch nicht gut.“
„ Apropos Clara. Glaubst du, die hätte so etwas auch gesagt, wenn du anwesend gewesen wärst?“, überlegt Melanie und sieht Kübra fragend an. Kübra zuckt die Achseln und sagt dann …
Mehr:
“Geschlecht und Nation”
Ein gutes Buch von Nira Yuval-Davis, auch wenn wir nicht alle von Davis Ansichten teilen.
“Feministische Theorie”
Buch von Andrea Trumann, erschienen in der Reihe theorie.org.