Das Märchen der freien Wahl (Ausgabe #9)

Die Politik ist auf Kuschelkurs mit einem Ansatz aus der Verhaltensökonomie, der uns zu klugen Entscheidungen führen soll. Eine zukunftsfähige Lebensweise entscheidet sich aber nicht auf dem Weg des geringsten Widerstandes.

– von Vivianne Rau

Ob zur Wanderung oder Arbeit, ich fahre Fahrrad oder mit den Öffis. Ich esse vegan und regional, trenne Abfälle und heize mit Fernwärme. Mache ich das bewusst? Oder wurde ich subtil zur „guten Bürgerin“ erzogen, indem mir das ausgebaute Öffi-Netz, Grätzelräder oder Bauernmärkte ein soziales und ökologisches Leben erleichtern? 

Soziale Konditionierung durch Vorgabe einer klugen Entscheidungsarchitektur – dieser Methode der öffentlichen Hand wurde 2009 durch das Buch Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt ein moderner Anstrich verpasst. Für den Chicago-Professor und Autor Richard Thaler gab es dafür den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, für eine Fliege ungeahnten Ruhm. Ihre Erfolgsgeschichte beginnt auf dem Männerklo. Der unbekannte Erfinder des ersten „Nudges“, auf Deutsch „Anstupser“, war genervt von verunreinigten Toiletten und malte eine Fliege in ein Pissoir. Den Urinierenden blieb die Freiheit, sie als Zielscheibe zu verwenden, oder weiterhin danebenzupissen. Viele entschieden sich für Ersteres, womit der erste „Nudge“ geboren war.

Schlaue Stupser für dumme Menschen?

Zu der Erkenntnis, dass Menschen teilweise Entscheidungen treffen, die nicht ihrer eigentlichen Absicht entsprechen, gibt es inzwischen eine eigene Theorie. Demnach greift jeder Mensch auf zwei kognitive Entscheidungssysteme zurück. System 1 beschreibt kurzfristiges Denken, das von spontanen Gefühlslagen getrieben ist. System 2 ist langsamer, dafür weitsichtig und abwägend. Nun zähle ich Trägheit, Gegenwartstendenz und die Neigung zur Prokrastination spätestens seit Corona zu meinen zentralen Charaktereigenschaften. Für Vertreter_innen von Nudging sind das systematische Verhaltensfehler, die insbesondere unter Stress oder Ablenkung zu nachteiligen Entscheidungen führen. Davor wollen sie uns bewahren und uns stattdessen zu einer „System-2-Entscheidung“ hinstupsen.

„,Nudging for Good’ verspricht positive Verhaltensänderungen ohne Zwang.“

Anhand verschiedener Arten von „Nudges“ soll die zur Kurzsichtigkeit neigende Gesellschaft zu rationalerem Verhalten motiviert werden. Die geläufigste Variante ist die sogenannte „Default-Methode“. Sie liefert uns die beste Entscheidung als Voreinstellung, der wir aber jederzeit widersprechen können. Wenn wir automatisch Strom aus erneuerbarer Energie beziehen würden, dann wäre das ein „Default Nudge“.

Stups mich, Baby!

Spätestens seit Barack Obama sich von Nudging-Promi Cass Sunstein beraten ließ, sieht die Politik im Nudging eine Chance, Sozial- und Umweltpolitik sexy und konsensfähig zu machen. Libertärer Paternalismus, also staatliches Nudging, lauten die Zauberworte gegen die unliebsame Verbindlichkeit von Verboten und Gesetzen. In Europa traf das einen Nerv der Zeit. 2010 entstand die erste Nudge Unit in Großbritannien, Angela Merkel schuf Nudging-Stellen im deutschen Kanzleramt und seit 2018 hat auch Österreich eine verhaltensökonomische Beratungseinheit. Ob in der Umweltpolitik, der sozialen Arbeit, der Gesundheitsbranche oder im Diversitätsmanagement – überall verspricht „Nudging for Good“ positive Verhaltensänderungen ohne Zwang.

„Die Politik sieht im Nudging eine Chance, Sozial- und Umweltpolitik sexy und konsensfähig zu machen.“

Es gibt verhaltene Kritik. Neoliberale warnen vor Bevormundung, Manipulation und der Gefahr, Menschen zu „falschen“ Entscheidungen zu bewegen. Befürworter_innen verweisen routiniert auf das Transparenzgebot, die freie Entscheidungsstruktur und auf Studien, die eine allgemeine Befürwortung der subtilen Verhaltenssteuerung belegen.

Wir sind mehr als unsere Entscheidungen

Politisches Nudging suggeriert einfache Lösungen und reduziert die Mündigkeit von Bürger_innen auf den Moment einer alltäglichen Entscheidung. Freundlich betrachtet führt das zu weniger problematischen Entscheidungen in einer problematischen Welt. Kritisch betrachtet verharmlost es die Dringlichkeit der sozial-ökologischen Transformation.

Was stimmt, ist: Individuelles Konsumverhalten verursacht rund zwei Drittel der globalen Kohlenstoffemissionen. Forschungsergebnisse aus der sozial-ökologischen Forschung machen ein autofreies Leben, vegane Ernährung, Strom aus erneuerbaren Energien und ökologische Gebäuderenovierung als die größten Hebel zur Reduzierung des individuellen Verbrauchs aus. Gleichzeitig betonen diese Studien, dass potentielle Maßnahmen nie ohne Struktur- und Gerechtigkeitsfragen gedacht werden dürfen.

„Das ,Richtige’ ist höchst subjektiv und nicht ohne Widersprüche.“

Denn das „Richtige“ ist subjektiv und nicht ohne Widersprüche. Wenn ich Mechatronikerin für E-Autos bin und zuhause automatisch Ökostrom beziehe, ist das nur so lange „richtiges“ Verhalten, wie ich es in einem männlich dominierten Berufsfeld aushalte und mir den Strom leisten kann. Dazu kommt, dass ich Entscheidungen aus Empathie, Solidarität oder Liebe treffe, die sich weder durch System 1 noch 2 erklären lassen.

Der Fokus auf das dualistische Modell beruht auf einem individualistischen, defizitären Menschenbild, das für strukturelle Fragen und positive menschliche Eigenschaften blind ist. Damit treten Befürworter_innen von Nudging in die verstaubten Fußstapfen ihrer ökonomischen Vordenker_innen. Doch die Mehrfachkrisen unserer Zeit verlangen Mut zu kreativen Experimenten, die die Stärken und nicht die Schwächen der Menschen in den Mittelpunkt stellen.

Zum Weiterlesen:

Die Schenke: Kost-Nix-Laden und Ort der maximalen Verwirrung für Verhaltensökonom_innen.

Der APCC Special Report 22: im Sinne einer interdisziplinären Wissenschaft werden Strukturen für ein klimafreundliches Leben erforscht.

Im Grunde gut: so handeln Menschen laut Rutger Bregman. In seinem Buch bricht er mit der westlichen Erzählung vom bösen Menschen.