Seit Jahrzehnten erfahren Kurd_innen Leid und Unterdrückung. Die Aktivistin Nezaket Doğan erzählt, wie die kurdische Freiheitsbewegung es durch kollektive Schmerzbewältigung schafft, ihren Widerstand aufrechtzuerhalten.
– von Wanja Musta und Freya Walch
– Übersetzung von Alara Yoldaş
Obwohl der Frühling sich langsam ankündigt, hängen dicke Wolken am Himmel. In einem unscheinbaren Haus in einer deutschen Kleinstadt erhellt ein Meer aus Kerzen den Raum. Dicht gedrängt versammeln sich hier unzählige Menschen. Gemeinsam singen sie mit lauter und entschlossener Stimme in verschiedenen Sprachen über Widerstand, Revolution, Freiheit und Verlust. An den Wänden blicken dutzende Gesichter junger Menschen aus ihren Bilderrahmen in die Ferne. Unter den Bildern stehen deren Geburtsjahre, daneben ein Unendlichkeitszeichen, denn die Gefallenen leben, laut ihren Freund_innen und Familien, ewig.
„Moral“ wird diese Veranstaltung in der kurdischen Freiheitsbewegung genannt. Durch das kollektive Tanzen und Singen revolutionärer Lieder oder das Erzählen kraftvoller Geschichten wollen sie eine Atmosphäre der Hoffnung und Zuversicht schaffen. Im Mittelpunkt steht das Gefühl der Gemeinschaft; es geht um eine tiefe Verbundenheit mit all jenen, die gemeinsam kämpfen, den Lebenden und denjenigen, die ihr Leben ließen.Unter den Bildern der jungen Kämpfer_innen sind auch ein paar ältere Aufnahmen in Schwarz-Weiß. Eine ist sehr groß. Die Versammelten betrachten den entschlossenen Blick des jungen Mannes. Mazlum Doğan war sein Name. Er war Mitbegründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und eine Symbolfigur der kurdischen Freiheitsbewegung. 1982 tötete er sich selbst aus Protest gegen die Foltermethoden im Gefängnis von Diyarbakır und wurde Symbolfigur des erstarkenden Widerstands in Gefängnissen. Seine Schwester Nezaket lebte zu dieser Zeit bereits in Deutschland und baute von dort aus ein internationales Netzwerk mit auf, das den Befreiungsgedanken über Ländergrenzen hinweg weiterträgt. Wir fragen Nezaket Doğan nach dem Umgang mit Trauer innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung. Sie beginnt, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen:
»In der kurdischen Freiheitsbewegung haben wertvolle Menschen einander kennengelernt, haben gekämpft und viele von ihnen sind gestorben. Das macht uns traurig, aber gibt uns auch Kraft. Wenn eines Tages das, wofür sie gekämpft haben, Wirklichkeit wird, dann werden wir erhobenen Hauptes und glücklich sein. Also begraben wir unseren Schmerz in uns selbst. Natürlich sind wir traurig. Schließlich sind wir Menschen. Eine türkische Mutter leidet genauso wie eine kurdische oder armenische. Mit anderen Worten: Indem man Menschen gegeneinander ausspielt, leiden wir als ganzes Volk. Ich habe in meiner Familie viel Schmerz erlebt. Wir waren damit allerdings nicht allein. Alle um uns herum haben ebenso getrauert, waren ebenso betroffen. Unsere Trauer hat sich anschließend in Hass verwandelt. Es geht dabei nicht um Rache. Wenn den Kurd_innen ihre Rechte von den immer wiederkehrenden Regimen wie der Türkei, Syrien oder dem Iran gewährt, und wenn bestimmte Forderungen anerkannt würden, könnten wir wieder in harmonischer Freundschaft miteinander leben. Das waren schon immer Gedanken, die uns Mut gegeben haben. Auch der unermüdliche Kampf der Revolutionäre in der PKK, der Anstand dieser Menschen, unser Glaube an sie und das Erkennen der eigenen kurdischen Identität hat uns darüber hinaus sehr viel Kraft gegeben.«
Die PKK wurde 1978 in den nordkurdischen Regionen auf dem Staatsgebiet der Türkei als Reaktion auf die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung und ihrer Identität sowie auf die Vertreibung der Kurd_innen in der Türkei und anderen Siedlungsarealen gegründet. Diese erstrecken sich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges über Teile der Territorien des Irak, Irans, Syriens sowie der Türkei. In all diesen Staaten folgten Gesetze und Maßnahmen gegen die Kurd_innen als Teil der sogenannten Kurdenpolitik. Dazu zählte die Kriminalisierung der Sprache, des kurdischen Brauchtums und der Menschen selbst. Nach Drängen der Türkei wird die PKK 1993 in Deutschland und vielen europäischen Ländern mit einem Betätigungsverbot belegt.1 Darüber hinaus wird sie von der EU 2002 auf die europäische Terrorliste gesetzt2. Doch nicht alle Länder beteiligen sich am Betätigungsverbot, wie zum Beispiel die Schweiz3, Italien und Griechenland. Als terroristisch stufen diese Länder die PKK trotzdem ein. Im Verlauf der Jahre wird immer wieder diskutiert, ob die Partei weiterhin auf der Terrorliste bleiben soll. Unter anderem, da die PKK maßgeblich zur Zerschlagung des sogenannten „Islamischen Staates“ beigetragen hatte.4
Nezaket sitzt in ihrer Wohnung und erzählt mit Leidenschaft ihre Geschichte. Ihre Worte schlagen wie präzise Hammerschläge auf uns ein. Während sie erneut Tee zubereitet, wandelt sich die Revolutionärin wieder in eine freundliche Dame mit verschmitztem Lächeln. Auch ihre Wohnung wirkt bescheiden und unscheinbar. Nur wenige Bilder von gefallenen Freiheitskämpfer_innen zieren ihre Wände, anders als es sonst in der politischen Bewegung üblich ist. In Wohnungen, Sälen oder als große Plakate an Ortseingängen hängen im gesamten kurdischen Gebiet die Bilder der Gefallenen. Gebäude, Orte und Initiativen tragen ihre Namen.
Wir fragen Nezaket: Wie wird in der kurdischen Freiheitsbewegung mit der gemeinsamen Trauer umgegangen?
»Wir haben schmerzhafte Tage erlebt. In den achtziger Jahren, zum Beispiel wurden all die jungen Leute, die in Kurdistan aktiv waren; Studierende, Bäuer_innen, Arbeiter_innen verhaftet. Meine Familie hatte Glück. Wir durften unseren Bruder im Gefängnis besuchen. Wir konnten seinen Schmerz spüren, den Schmerz, als er und unzählige andere junge Menschen gefoltert wurden. Sie brachen ihnen die Finger und die Arme. Sie ließen sie über Glasscherben laufen und wir konnten ihre Stimmen und Schreie sogar im Gerichtssaal hören. Es gibt kein schlimmeres Leid, als den Schmerz deiner geliebten Menschen miterleben zu müssen. Aufgrund unserer Trauer und dem Kampf konnten wir uns oft nicht ausreichend unseren eigenen Kindern zuwenden. Das ging an ihnen nicht spurlos vorbei. Viele von uns haben daraufhin die enge Beziehung zu den eigenen Kindern verloren. Trotzdem mussten wir denjenigen beistehen, die in diesen Gefängnissen gefoltert wurden. Dessen waren wir uns bewusst. Solange wir Seite an Seite mit ihnen standen, konnten wir unsere Trauer unterdrücken und sie in Kraft umwandeln.«
Mazlum Doğan wurde 1979 inhaftiert. Ihm wurde, von der türkischen Regierung, die Gründung und Führung einer als “terroristisch” eingestuften Organisation, die Beteiligung an der Befreiung eines Genossen und die Fälschung von Ausweispapieren vorgeworfen. Das Gefängnis, in dem er untergebracht wird, ist schon damals für Folter bekannt. Bis heute ist das Gefängnis immer wieder durch Anwendung von Folter in die Presse gekommen. So betitelt etwa die New York Times das Gefängnis als eines der 10 “berüchtigsten” Gefängnisse der Welt. Die Zeit nach der Erbauung des Gefängnisses von 1980 bis Anfang der 1990er Jahre gilt als besonders schlimm im Hinblick auf die Behandlung der Insass_innen. Zu der Zeit saßen dort vor allem Kriegsgefangene und politische Gefangene, darunter eine Vielzahl an Kurd_innen.
Nezaket erzählt in dem Gespräch immer wieder Anekdoten des Widerstands. Dabei spricht sie über die Personen so zeitlos, dass es schwierig ist, festzustellen, ob sie noch leben oder schon verstorben sind. Sie hält so die Erinnerungen an die Gefallenen durch ihre Geschichten aufrecht und lebendig. Immer wieder fällt das Wort „Şehîd“. Für einen Teil der Bevölkerung ist der Kampf um kollektive Selbstbestimmung mit dem Tod verbunden. „Şehîd“ wird meist sinngemäß als „Gefallene“ übersetzt. Das Wort hat in der Bewegung aber noch eine tiefere Bedeutung: Die Würdigung des Lebens und Wirkens der Gefallenen für die Revolution, die über ihren physischen Tod hinausgeht.
Durch dieses starke Wort und seinen Wert für Nezaket kam für uns eine weitere Frage auf: Was bedeuten die Gefallenen für dich?
»Sie opferten sich nicht nur für Kurdistan und das kurdische Volk auf, sondern für den gesamten Nahen Osten. Sie haben uns gelehrt, den Egoismus beiseite zulegen, sie haben vorgelebt, was Freund_innenschaften und die Solidarität mit anderen Völkern bedeuten kann. Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich diesen widerständigen Menschen dankbar sein. Und genauso werde ich es auch meinen Kindern weitergeben. Dank ihnen habe ich gelernt, ohne Angst unsere Rechte zu verteidigen. Uns sowohl gegen das Patriarchat als auch gegen die unterdrückenden Regierungen zu wehren. Sie haben uns ein für alle Mal die Angst genommen.«
Durch die vielen Verluste in den Kämpfen um die Freiheit für die kurdische Bevölkerung scheint es offensichtlich, dass die Toten und ihre Taten einen hohen Stellenwert in der Gemeinschaft haben. Die Kurd_innen, mit denen wir in Kontakt sind, kennen alle Namen und Lebensgeschichten der Gefallenen aus ihrem Dorf oder der Nachbarschaft. Jede Familie hat Gefallene in ihren Reihen. Die Gemeinschaft gedenkt ihnen gemeinsam nicht nur an Jahrestagen, sondern auch zu Anlässen wie Festen, Musikveranstaltungen oder großen Essen. Es werden ihre Lieder gesungen, ihre Texte gelesen und ihre Bilder angeschaut. Für uns, die in einer ganz anderen Lebensrealität aufgewachsen sind, wirkt dieser Umgang mit den Verstorbenen oft etwas befremdlich. Doch es scheint in ihrer politischen Bewegung zu Hoffnung und einem großen Zusammenhalt zu führen. Nicht eine Hoffnung, die durch den Tod aufrechterhalten werden soll, sondern Hoffnung, die selbst über den Tod hinaus zu gehen scheint.
Zuletzt interessierte uns, mit welcher Perspektive ein Mensch wie Nezaket in die Zukunft blickt.
»Was mir besonders Mut macht, ist die Gewissheit, dass es niemals möglich sein wird, alle Revolutionäre auszulöschen. Es werden wieder Revolutionen auftauchen, nachdem vorherige zerstört wurden. Es wird wieder eine Saat geben, die dem Kapitalismus entgegenwächst. Denn, gibt es etwas Schöneres, als seinen Willen nicht dem Befehl eines anderen zu unterwerfen? Ich verneige mich vor allen linken Widerstandskämpfer_innen, vor den Märtyrer_innen der Revolution und gedenke ihnen mit Respekt. Wer auch immer den Preis für die Gerechtigkeit bezahlt, wer auch immer widerständig bleibt, mein Respekt ist für sie unendlich. Es ist, als wären sie ein Teil von mir; sie sind wie mein Finger, wie meine Hand, wie mein Auge.«
1 https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/verbot-der-arbeiterpartei-kurdistans-in-deutschland-790068
2 https://www.verfassungsschutz.de/EN/topics/foreign-extremism/foreign-extremism_node.html
3 https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=19943397