Was fehlt? (Ausgabe #5)

Utopien haben in der Vergangenheit zu Ansätzen einer befreiten Gesellschaft geführt – aber auch zu ihrem Gegenteil. Wo steht die Utopie heute und wie können wir sie verwirklichen?

by Mika Sommer

Utopie – ein Noch-Nicht-Ort – ist die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll. Freie Assoziation, Anarchie, Kommunismus oder befreite Gesellschaft. Für das Utopische wurden schon viele Namen gefunden. Wer allerdings heute davon spricht, dass eine andere Gesellschaft möglich ist, wird schnell als Spinner_in, Illusionär_in oder zumindest als naiv abgestempelt. Denn der Kapitalismus gilt als alternativlos. An die Stelle der Hoffnung auf eine bessere Welt tritt die Angst vor der Verschlechterung der Gegenwart. Jedoch tun sich immer wieder Brüche und Risse in Form von großen politischen Bewegungen auf. Die Realisierung einer besseren Gesellschaft wird dann wieder möglich.

„An die Stelle der Hoffnung auf eine bessere Welt tritt die Angst vor der Verschlechterung der Gegenwart.“

Gegenbilder und Gegenwelten

Mit der Französischen Revolution und der Aufklärung sahen die Menschen ihr Leben nicht mehr als von Gott gegeben an. Gesellschaft galt ab nun als veränderbar. Entgegen der bis dahin vorherrschenden religiösen Vorstellung von einem Paradies nach dem Tod, ging es den Menschen in der Revolution um ein besseres Leben im Diesseits. Das Ziel war eine neue Gesellschaft, die auf Vernunft und Gleichheit basiert.

„Mit der Zeit versuchten Menschen, die perfekten Inseln aus den Büchern in realen Siedlungen umzusetzen.“

Die neuen Vorstellungen und Sehnsüchte tauchen in dieser Zeit auch vermehrt in Romanen auf. Diese Geschichten verarbeiten unbefriedigte Wünsche und Bedürfnisse und sprechen sie erstmalig aus. In den Romanen wurde Utopie vor allem als ferner Ort in fremden Ländern oder auf fiktiven Inseln beschrieben. Damit spiegeln sie vor allem wider, was sich die Menschen damals wünschten und erträumten.

Mit der Zeit versuchten einige Menschen, die perfekten Inseln aus den Büchern in realen Siedlungen umzusetzen. Der Plan war, die neue, gewünschte Welt bereits in der Gegenwart in kleinen Einheiten aufzubauen. Diese Kommunen sollten in der Gesellschaft wie alternative Keimzellen wirken und sie so als Ganzes verändern. Die Siedlungspläne waren bis ins kleinste Detail durchgeplante Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben. Jene, die diese Pläne entwarfen, sahen sich selbst als Architekt_innen und Verwalter_innen der Kommunen. Damit setzten sie sich an deren Spitze und wollten sogar die Schlafenszeiten und den Sex der Bewohner_innen regulieren. Die Ideen von utopischen Siedlungen wurden vielfach in der Realität ausprobiert. Allerdings scheiterten die Versuche meistens an sozialen Zerwürfnissen und enttäuschten Erwartungen.

Revolution und Kommunismus

In Abgrenzung zu utopischen Romanen und Siedlungsplänen, sowie im Anschluss an die Aufklärung wurde Utopie später nicht mehr als ferner Ort verstanden oder auf einen kleinen Rahmen beschränkt. Stattdessen galten utopische Vorstellungen als Leitbilder für eine andere Welt. Ziel war der Aufbau einer Bewegung zur Herbeiführung einer Utopie. Diese Utopie nannte man Kommunismus. Das Mittel, sie zu erreichen, war die Revolution. Im Zuge der Revolution sollte aber keine fertige Utopie umgesetzt, sondern all das, was in der Gesellschaft bereits verfügbar war, allen zugänglich gemacht werden.

„Ziel war der Aufbau einer Bewegung zur Herbeiführung einer Utopie. Diese Utopie nannte man Kommunismus. Das Mittel, sie zu erreichen, war die Revolution.“

Dem können wir viel abgewinnen und sind deshalb der Meinung, dass eine Utopie keine perfekt ausgemalte zukünftige Welt ist, oder zumindest nicht sein sollte. Stattdessen entsteht sie vor allem aus der praktischen und theoretischen Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft. In dieser ist bereits enthalten, was stattdessen sein soll. 

So steckt beispielsweise im Anprangern von Hunger und Armut nicht nur eine Kritik am Ist-Zustand, sondern auch die Konsequenz, dass alle bedingungslos genug zu essen haben sollen – unabhängig davon, ob und wieviel sie dafür gearbeitet haben. Indem gesagt wird, was man nicht möchte, kann man sich Stück für Stück an eine Utopie herantasten.

Paint the picture?

Da wir in der jetzigen Gesellschaft aufgewachsen sind, ist unser Handeln und Denken mit dieser verstrickt und durch sie geprägt. Das hat auch Einfluss auf unsere Vorstellungen von Utopien. Wir können uns beispielsweise eine Welt frei von Herrschaft und Ausbeutung wünschen. Wie diese jedoch konkret aussehen wird, können wir uns derzeit nur grob vorstellen. Utopien weisen also nicht nur über das in der Gegenwart Machbare, sondern auch über das in der Gegenwart Vorstellbare hinaus.

„Mit dem Verzicht auf ein bis ins letzte Detail ausgemaltes Bild einer Idealgesellschaft soll auch vermieden werden, anderen diese mit Gewalt aufzuzwingen.“

Es geht aber nicht darum, sich selbst das Sprechen über die gewünschte Zukunft zu verbieten oder zu denken, dass diese unserem Handeln entzogen ist. Für Veränderung ist es sogar notwendig, zu formulieren, wie unsere Utopie aussieht. Denn nur so können wir über die verschiedenen Entwürfe und Vorstellungen demokratisch diskutieren und uns überlegen, wie wir diese erreichen können.

Alle an die Macht!

Um die Fehler, Irrwege und Verbrechen anderer zu vermeiden, müssen wir uns mit vergangenen Versuchen der Befreiung auseinandersetzen und aus deren Scheitern lernen. Denn historisch hat der Wunsch nach einer besseren Gesellschaft oft zu deren Gegenteil geführt, beispielsweise im Fall des Realsozialismus. Statt Freiheit und Gleichheit zu realisieren, wurden Ausbeutung und Herrschaft sogar ausgeweitet. Es wurden Polizeistaaten, Gefängnisse und Arbeitslager errichtet und millionenfach Menschen ermordet. Einzelne Gruppen oder Diktatoren herrschten mit Gewalt über alle anderen. Jene linken Revolutionär_innen, die weiterhin am Ziel der Befreiung aller Menschen festhielten, konnten sich in der Geschichte leider viel zu oft nicht durchsetzen, wurden von den Diktatoren verfolgt und ihre Ideen verschwiegen.

„Statt Freiheit und Gleichheit zu realisieren, wurden Ausbeutung und Herrschaft sogar ausgeweitet.“

Vor diesem Hintergrund reicht es also nicht, immer wieder nur zu betonen, dass die Gesellschaft, die man sich wünscht, nichts mit dem Stalinismus zu tun hat. Denn es liegt an der Linken, zu zeigen, dass ihr Wunsch nach Befreiung aller auch zu dieser führt.

Seien wir realistisch…

„Das angestrebte Ziel ist eine Welt, in der alle ohne Angst und Zwang verschieden sein können.“

Angesichts des im Kapitalismus täglich produzierten Elends und der autoritären Zuspitzung der Gesellschaft durch Rechtsextreme und Islamist_innen sollten wir utopische Perspektiven wieder auf die Tagesordnung setzen und diese offensiv anstreben. Denn um das Schlimmste zu verhindern, reicht es nicht, das Schlimme zu verteidigen, sondern nur, etwas Besseres zu erschaffen. Eine solche utopische Perspektive würde dazu führen, dass der Kampf der Linken zu einem positiven wird. Zu einem Kampf nicht nur gegen Rechtsextremismus, sondern für die Befreiung aller.

…versuchen wir das Unmögliche

Das angestrebte Ziel ist aber kein widerspruchsfreies Ideal oder abgeschlossenes Paradies, sondern eine weiterhin konflikthafte, aber gerechte Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die möglichst frei von Herrschaft und Ausbeutung ist. Die so demokratisch organisiert ist, dass jene, die von Entscheidungen betroffen sind, diese auch selbst treffen. In der Menschen nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen zum Zusammenleben beitragen. In der alle einander helfen, weil sie die Bedürfnisse der anderen kennen und verstehen. Eine Welt, in der alle ohne Angst und Zwang verschieden sein können.

„Denn um das Schlimmste zu verhindern, reicht es nicht, das Schlimme zu verteidigen, sondern nur, etwas Besseres zu erschaffen.“

Diese neue Welt wird nicht aus utopischen Vorstellungen in Romanen oder kleinen Siedlungen entstehen. Sie muss aber auch nicht neu erfunden werden. Für den Anfang kann nach den bereits existierenden utopischen Ideen in politischen Bewegungen Ausschau gehalten werden. Diese verschiedenen Entwürfe und Vorstellungen gilt es zu verknüpfen und zusammenzudenken. Wir als linke Gruppen und Personen sollten uns aufeinander beziehen, uns bestärken und unterstützen. Seien wir realistisch, versuchen wir das Mögliche.

Mehr:

Phase 2 #36 und #42
Eine Zeitschrift zum Thema „Kommunismus“ und „Frühlingsgefühle“.

„Utopie“ und „Konkrete Utopien“
Ein einführendes Buch und dessen Fortsetzung von Alexander Neupert-Doppler

Die Bücher der Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK)