„Scheitern ist immer ein Scheitern an den eigenen Maßstäben“ (Ausgabe #5)

Wir haben uns mit Bini Adamczak getroffen und über Utopie, revolutionäres Scheitern und menschliche Beziehungen gesprochen.

– by Martin Bernstein

Bini Adamczak ist eine Autorin zu Themen wie Kommunismus und queerer Sexualität. Erschienen sind unter anderem die Bücher „Kommunismus. Eine kleine Geschichte wie alles anders wird“ (2004), „Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende“ (2017) und „Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution.” (2017). Lesungen und Vorträge gibt es auf Youtube zu finden.

»Martin: Utopie – Was bedeutet das eigentlich?

Bini: Ich würde sagen, Utopie ist die Frage „Wie wollen wir leben?”. Diese Frage zu beantworten erfordert den Mut, sich im Träumen und Wünschen nicht von der bestehenden Gesellschaft einschränken zu lassen. Also den Mut, mehr zu wollen, als aktuell realisierbar erscheint.

»Martin: Auf dem Weg zur Utopie muss es ja auch eine Revolution geben. Wie verhalten sich Revolution und Utopie zueinander?

Bini: Das ist eine Frage des Übergangs hin zu einer anderen Gesellschaft. Wir wollen ja nicht nur die Vorstellung einer Welt, in der das gegenwärtige Unglück und Leid abgeschafft ist. Sondern wir wollen in dieser Welt auch leben. Deshalb beschäftigt uns die Frage, wie wir sie erreichen können. Wenn wir nicht nur Politik unter gegebenen Bedingungen machen, sondern die Bedingungen selbst ändern, handelt es sich um revolutionäre Politik. Eine reformistische Frage wäre zum Beispiel: Wie lassen sich Beruf und Familie vereinbaren? Eine revolutionäre Frage wäre: Wollen wir unser Leben in Form von Beruf und Familie organisieren oder lieber andere Beziehungsformen finden?

»Martin: Historisch hat es einige Revolutionen gegeben, in vielen haben sich Ansätze einer neuen Gesellschaft gezeigt. Diese wurden entweder niedergeschlagen oder sind gescheitert. Warum ist die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen wichtig?

Bini: Wir sollten zunächst zwischen Niederlagen und Scheitern unterscheiden: Niederlagen werden der Bewegung von außen beigebracht – durch kriegerische Interventionen oder polizeiliche Repression. Scheitern hingegen ist ein Scheitern an den eigenen Maßstäben. Die Pariser Kommune hat eine Niederlage erlebt, sie wurde blutig niedergeschlagen. Die Russische Revolution ist gescheitert. Sie hat sich zwar gegen die Konterrevolution durchgesetzt, konnte aber ihren eigenen Ansprüchen nicht genügen.

Es ist wichtig, aus beiden historischen Erfahrungen zu lernen. Einerseits gibt es Kräfte, die an den bestehenden Ungleichheiten festhalten und bereit sind, sehr viele Grenzen des Menschlichen einzureißen, um diese zu sichern. Andererseits besteht die Gefahr, dass wir uns diesen militärischen und konterrevolutionären Kräften im Kampf gegen sie angleichen.  Wir können deswegen nicht um jeden Preis gewinnen wollen. Um jeden Preis zu gewinnen könnte bedeuten, dass wir am Ende zwar gesiegt haben, aber selber wie unsere Gegner_innen geworden sind.

Die Beschäftigung mit Revolution in nicht-revolutionären Zeiten ist extrem produktiv. Der Blick in die Geschichte zeigt: So wie es ist, muss es nicht bleiben – es war nicht immer so und es kann anders sein. Es gab Zeiten, und es wird wieder Zeiten geben, in denen Menschen in viel größerem Ausmaß als es gerade vorstellbar erscheint in der Lage sein werden, kollektiv ihre Leben zu gestalten.

»Martin: Utopie und der Weg zu ihr werfen viele Fragen auf. Gerade zwischenmenschliche Beziehungen werden in Utopien oft neu gedacht und in revolutionären Situationen verändert. Wie siehst du das Verhältnis von Utopie und Beziehungen?

Bini: Ich vertrete allgemein die These, dass es bei jedem Versuch, unsere Leben kollektiv zu verändern, letztendlich darum geht, unsere Beziehungen zu verändern. Beziehungen zu leben heißt mehr als Verhältnisse zu Menschen zu unterhalten, die wir persönlich kennen. Es  heißt auch, Verhältnisse zu Menschen zu unterhalten, die wir noch nie in unserem Leben gesehen haben und auch nie sehen werden. Von denen wir aber dennoch abhängig sind. Zum Beispiel, weil sie die Lebensmittel herstellen, die wir konsumieren. Wir sind über den Weltmarkt mit Milliarden von Menschen verbunden. Aber die Beziehungen, die wir zueinander unterhalten, sind Beziehungen der Ware und des Geldes. Das heißt, es sind Beziehungen der Gleichgültigkeit, der Ungleichheit und der Konkurrenz. Der Kampf um eine bessere Welt wird darum geführt, diese Beziehungen so zu verändern, dass aus ihnen Beziehungen der Solidarität, der Gleichheit und der Kooperation werden.

»Martin: Vielen Dank für das Interview!

Im Interview werden zwei Revolutionen erwähnt: Die Pariser Kommune bezeichnet die revolutionäre Situation in Paris von März bis Mai 1871. Sie gilt als erster Bezugspunkt der Rätedemokratie. Mit der Russischen Revolution ist die Revolution in Russland im Jahr 1917 gemeint, aus der die Sowjetunion hervorging.